Nirgendwo ist Poenichen by Christine Brückner

Nirgendwo ist Poenichen by Christine Brückner

Autor:Christine Brückner [Christine Brückner]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2014-09-22T00:00:00+00:00


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›Es hilft nichts, sich die Vergangenheit zurückzurufen, wenn sie nicht einigen Einfluß auf die Gegenwart ausübt.‹

Charles Dickens

Die Amerikareise war nicht ohne Auswirkungen geblieben. Die jungen Quints sagten noch monatelang ›Hi!‹ zur Begrüßung und ›See you!‹ statt ›Auf Wiedersehen!‹. Sie hatten an Weitläufigkeit und Sprachgewandtheit gewonnen. Im Februar legte Joachim, mit einem leidlichen Notendurchschnitt, sein Abitur ab. Im Sommersemester wollte er mit der finanziellen Unterstützung des sogenannten ›Honnefer Modells‹ ein Philologiestudium beginnen; vorerst arbeitete er aushilfsweise in der Buchhandlung Elwert. Edda verließ mit der mittleren Reife die Schule, besuchte Kurse in einer privaten Handelsschule und arbeitete in der Bratwurststube mit, deren Umsatz ständig stieg.

Golo erreichte das Klassenziel nicht. Im Hinblick auf die geplante Übersiedlung in die Vereinigten Staaten war die ›Ehrenrunde‹, wie er unbekümmert und beschönigend seine Nichtversetzung bezeichnete, doppelt bedauerlich. Den Abschluß der Realschulbildung hielt Maximiliane für unerläßlich. Zunächst fiel keinem auf, wie bereitwillig Golo die Verzögerung seiner Auswanderung hinnahm.

Während des Rückflugs war es ihm über dem Atlantik mehrfach gelungen, in die Flugzeugkanzel vorzudringen; sein Charme wirkte nicht nur auf Stewardessen, sondern auch auf Piloten. Die Geschwindigkeit des Flugs hatte ihn berauscht. Eine Möglichkeit zu fliegen bestand für ihn nicht, wohl aber die, Motorrad oder Auto zu fahren. Zweimal hatte er sich schon unrechtmäßig in den Besitz eines Motorrollers gebracht; beim drittenmal wurde er überrascht, jedoch nicht des Diebstahls bezichtigt, weil er, wie auch in den beiden früheren Fällen, das Fahrzeug an die Stelle zurückgebracht hatte, wo er es entwendet hatte. Der Tatbestand der ›dauernden Zueignung? war nicht gegeben; die Polizei beschränkte sich auf eine Verwarnung, benachrichtigte aber seine Mutter.

Von ihr zur Rede gestellt, versprach er, daß er sich in Zukunft keine Motorroller mehr ›ausleihen‹ würde, gab aber als Grund an: »Aus den müden Dingern ist ja doch nichts herauszuholen!«

Im März wurde der Kreis der Quints, in den sich seinerzeit Martin Valentin verhältnismäßig leicht und immer nur tage- und nächteweise eingefügt hatte, aufgebrochen. Zunächst entstand eine Lücke: Golo erschien nur noch unregelmäßig zu den Mahlzeiten oder kam abends spät nach Hause; er erklärte dann in der Regel, daß er Englisch gelernt hätte. Bis er eines Tages ein Mädchen mitbrachte.

»Hier ist sie!« sagte er und beanspruchte für sie einen Platz am Tisch. Tora und Edda rückten unwillig näher zusammen.

»Sie heißt Maleen!«

Der Plan des Auswanderns war damit vergessen; Golo überließ es seiner Mutter, einen erklärenden, um Aufschub bittenden Brief an Dr. Green zu schreiben. Sie war der Ansicht, daß sich das – wie der alte Quindt sich ausgedrückt hatte – wieder verwachsen würde, und erinnerte sich zudem daran, wie leicht sie selbst sich verliebt hatte. Gleichzeitig erinnerte sie sich aber auch an die warnenden Worte Dr. Greens und ging, im Vertrauen auf die Wirksamkeit von Büchern, in eine Buchhandlung. Sie erfuhr, daß die mehrbändigen Lexika noch nicht abgeschlossen seien; noch keines reichte bis zum einschlägigen Buchstaben ›S‹, Sexualität, und mit einem nur zwei- oder dreibändigen Nachschlagewerk wollte sie sich nicht zufriedengeben. So suchte sie einen Antiquar, Herrn Roser, auf und bat ihn, ihr ein ›großes Lexikon‹ zu beschaffen. Wenn die Kinder schon keinen Vater hatten, mußten sie wenigstens ein Lexikon haben.



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